Die Tränen des Heiligen.
Insel der Glückseligen nannten die Seefahrer
des Altertums Chios, die fünftgrößte
Insel Griechenlands. Homer, so sagt man, soll von
dem Eiland stammen, Mikis Theodorakis ist es gewiss.
Im Süden der Insel - und nur hier - gedeihen einzigartige
Mastixbäume, deren an der Rinde austretendes helles Harz
seit jeher als das qualitativ Beste seiner Art gilt. Nicht
ohne Grund wurde das teure Handelsgut bereits vor 2.000 Jahren
nach Ägypten exportiert und war in Rom heiß begehrt.
Ärzte und Historiker der Antike schwärmten von der
heilenden Wirkung, die Sultane des osmanischen Reiches waren
regelrecht süchtig danach. So berichtet im Jahr 1717
der französische Forschungsreisende Joseph Pitton
de Tournefort nach einem Inselbesuch: „Die
Sultane verbrauchen das Meiste vom Mastix, der in den Palast
kommt. Sie kauen ihn den ganzen Morgen lang auf nüchternen
Magen, sowohl um sich die Zeit zu vertreiben, als auch um
ihren Atem zu süßen.”
Die Legende erzählt vom heiligen Isodorus, der
weinend von den Römern zur Hinrichtung geführt wurde.
Als seine Tränen den Boden berührten, verwandelten
sie sich in duftenden Mastix.
Damit geben die Chioten einen Erklärungsversuch, wie
ein Baum, der in verschiedenen mediterranen Gebieten vorkommt,
ausschließlich auf Chios das begehrte Harz
liefert. Mastix wird auf der Insel noch heute zum tradi-tionellen
Aromatisieren kulinarischer Köstlichkeiten, wie Mastikhawein
und Likör, Backwaren und Loukoumia [Frucht-geleewürfel],
aber auch als Räuchermittel für lithurgische Weihen
der griechisch-orthodoxen Kirche verwendet. Im gesamten östlichen
Mittelmeerraum gilt Mastix nach wie vor als natürliches
Mittel gegen verschiedene Krankheiten oder wird zur Erfrischung
des Atems und Pflege der Zähne gekaut.
Mastix-Öl dient mittlerweile in feinen Kosmetika und
Emulsionen als hochwertiges Bindemittel mit medizinischen
Qualitäten. Die Bauern freut das sehr, denn ihr Absatz
leidet stark unter der Konkurrenz von billigen synthetischen
Harzen der chemischen Industrie. Mehrfach wurde bereits versucht,
den Mastixbaum aus Chios in anderen Teilen Griechenlands und
der Welt zu kultivieren, doch nirgendwo sonst gerinnt das
Harz zu jener Qualität, wie sie begehrt und benötigt
wird.

Mastixbäume
können skurrile Formen entwickeln.
Von
Mai bis Juni wird die Rinde der niedrigen, immergrünen
Mastixbäume angeritzt und der Boden unterhalb der Krone
sorgfältig gefegt. Das austretende Mastixharz erstarrt
zu Tropfen oder Klumpen. Die Arbeit des Abschabens vom Stamm
oder das Einsammeln heruntergefallener Stücke ist mühsam.
Zumeist sind es die Alten aus den Mastix-Dörfern Pyrgi,
Mestá und Olympi, welche sich mit
der Pflege der Bäume und von August bis Dezember mit
der Ernte des kostbaren Harzes ein Zubrot verdienen. Etwa
10 Bäume liefern ein Kilogramm Mastixharz. Mit Pinzetten
und Bürsten wird die Ernte von hartnäckigen Sandkörnern
oder Rindenrückständen befreit und das Ergebnis
der Mühsal sorgfältig sortiert. Weitere Säuberungs-
und Sortiergänge bis zur absoluten Reinheit übernimmt
dann die Vereinigung der Mastixproduzenten von Chios,
wo es durch Kooperationen zunehmend einfacher wurde, eigenen
und vorgegebenen Qualitätskriterien sowie strengen gesetzlichen
Vorschriften gerecht zu werden. Ein Teil der Ernte wird als
Harz weiterverarbeitet, ein anderer zu Öl destilliert.
Besonders das Mastixöl wird pur oder als biologische
Komponente aufgrund seiner antibakteriellen und pilzbefallverhütenden
Eigenschaften vor allem in Zahnpflegemitteln und zur Körperhygiene
verwendet.
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